IP/BUP: Invalidität & Berufsunfähigkeit - Begriffsdefinitionen / Prüfung der geminderten Arbeitsfähigkeit

Gesetzliche Grundlage
  • Allgemeines Sozialversicherungsgesetz, ASVG

Unterscheidung: Invaldität - Berufsunfähigkeit

Das ASVG unterscheidet zwischen

  • Arbeitern: Invaldität, Invaliditätspension (I-Pension) und
  • Angestellten: Berufsunfähigkeit, Berufsunfähigkeitspension (BU-Pension)

Definition Invalidität

Invalidität bei Ausübung erlernter (angelernter) Berufe:
  • Gelernter/Gelernte Arbeiter*in: hat einen vorgeschriebenen Ausbildungsweg erfolgreich abgeschlossen (meist Lehrberufe) oder im Rahmen eines Lehrverhältnisses Kenntnisse und Fähigkeiten erworben (das Lehrverhältnis muss nicht unbedingt mit einer erfolgreich abgelegten Lehrabschlussprüfung abgeschlossen worden sein)
  • Angelernter/Angelernte Arbeiter*in: wenn eine Tätigkeit ausgeübt wird, für die es erforderlich ist durch praktische Arbeit qualifizierte Kenntnisse oder Fähigkeiten zu erwerben, die jenen (in Qualität und Umfang) in einem erlernten (Lehr-)Beruf entsprechen. Arbeiter beherrscht gesamte Palette an Fähigkeiten, die Inhalt des Lehrberufes sind.

Arbeiter*innen, die überwiegend in erlernten oder angelernten Berufen tätig waren, dürfen nur auf andere Berufe ihrer Berufsgruppe verwiesen werden. Wurden sowohl Tätigkeiten als Arbeite*in und Angestellte ausgeübt, sind beide Tätigkeiten für die Erlangung des Berufsschutzes zu berücksichtigen.

Definition "überwiegende Tätigkeit ": Diese liegt vor, wenn innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine erlernte (angelernte) Berufstätigkeit oder eine Erwerbstätigkeit als Angestellte(r) ausgeübt wurde. Liegen zwischen Ende der Ausbildung und dem Stichtag wengier als 15 Jahre, so muss zumindest in der Hälfte der Kalendermonate - jedenfalls aber für 12 Pflichtversicherungsmonate - eine Erwerbstätigkeit in einem erlernten (angelernten) Beruf oder als Angestellte(r) vorliegen.

Invalidität liegt vor, wenn die Arbeitsfähigkeit infolge des körperlichen oder geistigen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen eines gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in jedem dieser Berufe herabgesunken ist.

Invalidität bei ungelernten Arbeiter*innen:

Betrifft Arbeiter*innen, die nicht überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen tätig waren oder ungelernte Tätigkeiten (z.B. Hilfsarbeiten) verrichtet haben.

Verweisung auf jede Tätigkeit, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die unter billiger Berücksichtigung der bisher ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann (KEIN BERUFSSCHUTZ!).

Invalidität liegt vor, wenn ein(e) ungelernte(r) Arbeiter*in nicht mehr imstande ist, durch irgendeine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die ihm/ihr unter billiger Berücksichtigung seiner/ihrer ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, mindestens die Hälfte des Entgelts zu erwerben, das ein(e) voll arbeitsfähige(r) Versicherte(r) zu erzielen pflegt.

Definition Berufsunfähigkeit

Variante 1: Berufsunfähigkeit mit Berufsschutz liegt vor
  • innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine Angestellten-Erwerbstätigkeit oder eine erlernte (angelernte) Berufstätigkeit ausgeübt wurde (Liegen zwischen Ende der Ausbildung und dem Stichtag weniger als 15 Jahre, so muss zumindest in der Hälfte der Kalendermonate - jedenfalls aber für 12 Pflichtversicherungsmonate - eine Erwerbstätigkeit in einem erlernten (angelernten) Beruf oder als Angestellte(r) vorliegen UND
  • die Arbeitsfähigkeit infolge des körperlichen oder geistigen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist (BERUFSSCHUTZ!).

Verweisungsberufe:

Anhand eines ärztlichen Gutachtens erfolgt ein Vergleich mit Leistungsanforderungen, die an gesunde Versicherte innerhalb der in Betracht kommenden Berufsgruppe gestellt werden (Verweisungsberufe).

Verweisungsfeld: alle Berufe, die derselben Berufsgruppe zuzurechnen sind, Branchenwechsel nicht ausgeschlossen. Entscheidend ist, ob der Verweisungsberuf für den/die Pensionswerber*in zumutbar ist oder einen sozialen Abstieg bedeuten würde.

Keine Verweisbarkeit innerhalb der in Betracht kommenden Berufsgruppe, die einen unzumutbaren sozialen Abstieg bedeuten würden. Dabei kommt es auf den sozialen Wert an, den die Allgemeinheit der Ausbildung und den Kenntnissen und Fähigkeiten des Versicherten (am Stichtag) beimisst. Die Einstufung einer Tätigkeit im Kollektivvertrag kann zur Beurteilung des sozialen Wertes herangezogen werden. (OGH 26.3.1991, 10 ObS 80/91) Eine gewisse Verschlechterung (gewisse Einbussen an Entlohnung und sozialem Prestige) wird jedoch als zumutbar angesehen.

  • Beispiel 1: Eine Verkäuferin, die eine kaufmännische Lehre abgeschlossen hat, muss sich z.B. auf die Tätigkeit einer Lohnschreiberin, Karteikraft, Statistikerin, Telefonistin (sog. Bürotätigkeiten) verweisen lassen.
  • Beispiel 2: Ein in einem anderen juristischen Beruf nicht mehr arbeitsfähiger Jurist könnte z.B. als Rechtskundelehrer eingesetzt werden.
Variante 2: Berufsunfähigkeit ohne Berufsschutz

Wenn die Voraussetzungen von Punkt (3.a) nicht zutreffen - Berufsunfähigkeit liegt vor,

  • wenn der/die Pensionswerber*in infolge des körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr imstande ist, durch eine zumutbare Tätigkeit wenigstens die Hälfte des Entgelts zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch diese Tätigkeit zu erzielen pflegt.
  • Verweisung auf jede Tätigkeit, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die der/dem Pensionswerber*in unter billiger Berücksichtigung der von ihm/ihr bisher ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann (KEIN BERUFSSCHUTZ!).

Verweisung auf eine andere Tätigkeit unter Berücksichtigung des Arbeitsmarktes: Sind in einem Beruf keine oder nur ganz wenige Arbeitsplätze vorhanden, ist dieser Beruf bei der Beurteilung von Invalidität/Berufsunfähigkeit kein zulässiger Verweisungsberuf. Sind in einem Verweisungsberuf 100 Arbeitsplätze vorhanden, dann spricht der OGH von einem relevanten Arbeitsmarkt und die Verweisung ist zulässig.

Was bei der Prüfung der geminderten Arbeitsfähigkeit zu berücksichtigen ist...

Persönliche Umstände finden keine Berücksichtigung:

"Daß ein Versicherter, der in der Lage ist unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes einer zumutbaren Beschäftigung nachzugehen und auch im Stande ist den Arbeitsplatz zu erreichen, wegen einer Motivationsschwäche im privaten Bereich einer Bezugsperson bedarf, die ihn zum Aufstehen und zum Aufsuchen des Arbeitsplatzes anhält, ist als persönlicher Umstand bei Prüfung eines Pensionsanspruches wegen geminderter Arbeitsfähigkeit außer Betracht zu lassen." OGH 29.05.1990 Rechtssatznummer RS0084929

"Persönliche Umstände, wie die Sprache, aber auch die persönlichen Einkommensverhältnisse und Vermögensverhältnisse oder die Krankenversicherung, sind bei Prüfung der Invalidität beziehungsweise der geminderten Arbeitsfähigkeit nicht zu berücksichtigen." OGH 28.01.1997 Rechtssatznummer RS0107503

Berücksichtigung von vermehrten Krankenständen 

siehe dazu zB Entscheidung des OGH 17.2.2006, 10 ObS 126/05k - abrufbar auf www.ris.bka.gv.at

Nach der Rechsprechung des Obersten Gerichtshofes (OGH) ist ein Versicherter auch dann als invalid/berufsunfähig anzusehen, wenn in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit und trotz zumutbarer Krankenbehandlung leidensbedingte Krankenstände (einschließlich periodisch anfallende Kuraufenthalte) von 7 Wochen im Jahr oder mehr zu erwarten sind. Begründung: Arbeitgeber*innen ist die Beschäftigung einer Person mit so lange überdurchschnittlichen Abwesenheiten nicht zumutbar.

Die in der Vergangenheit aufgetretenen Krankenstände sind grundsätzlich nur als Indiz zu berücksichtigen und fließen in die Beweiswürdigung ein.

Nicht in die zu erwartende Krankenstandsdauer einzurechnen sind:

  • einmalige nicht leidensbedingte Krankenstände (zB "normale Erkältungen")
  • in unregelmäßigen Abständen einmalige länger dauernde Krankenstände (zB aufgrund eines Unfalles)
  • in unregelmäßigen Abständen einmaliger Kuraufenthalt
Berücksichtigung von zusätzlichen Arbeitspausen

Wenn die erforderlichen zusätzlichen Pausen des Arbeitnehmers ein Ausmaß erreichen, dass einem durchschnittlichen Arbeitgeber die Beschäftigung eines solchen Arbeitnehmers nicht mehr zugemutet werden kann, liegt Arbeitsunfähigkeit vor.

Zurücklegen des Arbeitsweges bzw. Erreichen des Arbeitsweges

Die Notwendigkeit einer Begleitperson auf dem Arbeitsweg führt zur Arbeitsunfähigkeit:I m vorliegenden Fall benötigt die Person aufgrund einer psychischen Störung während der Eingewöhnungsphase eines neuen Dienstverhältnisses eine Begleitperson für den Arbeitsweg. Dazu der OGH: Wenn der/die Pensionswerber*in nicht mehr imstande ist, in zumutbarer Weise den Arbeitsplatz zu erreichen, liegt Arbeitsunfähigkeit vor. Denn die Organisation der Begleitperson durch den Dienstgeber würde eines  besonderen Entgegenkommens bedürfen, daher keine Verweisbarkeit. OGH 14.12.2012 10 ObS 144/21f; ZAS 2022/03, S 163

"Kann ein Versicherter den Weg zur Arbeitsstätte ab Verlassen der Wohnung unter den üblichen Bedingungen zurücklegen und eine ihm zumutbare Tätigkeit am Arbeitsplatz ohne Einschränkungen verrichten, so liegt Invalidität nicht vor. Die Tatsache, daß er allenfalls im häuslichen Bereich einer besonderen Betreuung bedarf (zB Hilfe beim Anziehen der Strümpfe und der Schuhe), um den Weg zur Arbeit anzutreten, ist als persönliches Moment bei Prüfung der Frage der geminderten Arbeitsfähigkeit nicht zu berücksichtigen." OGH 26.11.1991 10 ObS 332/91

"Davon zu unterscheiden ist der Fall, dass der Arbeitsweg selbst nicht ohne fremde Hilfe zurückgelegt werden kann. Der Arbeitsweg für die Beurteilung des Versicherungsfalls der geminderten Arbeitsfähigkeit ist nicht dem „privaten“ Lebensbereich zuzuordnen" OGH 14.12.2021 10 ObS 144/21f

"Ein Versicherter ist wegen einer Gehbehinderung solange nicht vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen, als er ohne wesentliche Einschränkung ein öffentliches Verkehrsmittel benützen und vorher sowie nachher ohne unzumutbare Pausen und mit angemessener Geschwindigkeit eine Wegstrecke von jeweils zumindest fünfhundert Meter zu Fuß zurücklegen kann." OGH 11.10.1988 Rechtsatznummer: RS0085049

Quellen
  • Pensionsversicherungsanstalt: Information 3 - Die Invaliditäts- bzw. Berufsunfähigkeitspension.
  • Müller: Sozialversicherung von A bis Z2. Wien: Linde Verlag 2002, S 124ff
  • Shubshizky: Leitfaden zur Sozialversicherung2. Wien: Linde Verlag 2002, S 267f
  • Knyrim/Valenèak: Rechtsratgeber für kranke und behinderte Menschen. Wien: Verlag LexisNexis ARD Orac 2002, S 58f
  • Invaliditäts- bzw. Berufsunfähigkeitspension – Arbeiter und Angestellte (oesterreich.gv.at)
  • ZAS-Judikatur 2006/111. In: ZAS 4/2006,S 179f
  • Neumayr: Wann steht ein Versicherter dem Arbeitsmarkt zur Verfügung?. In: ZAS 5/2003, S 196ff
  • Mosler/Müller/Pfeil: Der SV-Kommentar, § 255 ASVG
  • ZAS 2022/03, S 163
  • Entscheidungen des OGH: www.ris.bka.gv.at

Stand: 17.6.2022